Triage

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# Gemeindeleben

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Die Corona-Krise gibt uns Christ*innen neben den Aufgaben der Seelsorge und der praktischen Nächstenliebe auch einige drängende ethische Fragestellungen auf. Dazu zählt die Frage, was zu tun ist, wenn mehr Notfallpatienten ins Krankenhaus eingeliefert werden, als Intensivbetten zur Verfügung stehen? Gottlob musste diese Frage in Deutschland noch nicht konkret beantwortet werden – aber bedacht werden muss sie natürlich trotzdem. Wie sollen Ärzt*innen in einer schrecklichen Mangel-Situation entscheiden, wer ans Beatmungsgerät kommt – und wer nicht?

Die Militärärzte haben dafür ein System. Es heißt Triage. Es teilt die verwundeten Soldaten in drei Kategorien ein. Leichtverletzte werden nicht behandelt, denn sie überleben sowieso. Schwerstverletzte werden ebenfalls nicht behandelt, weil bei ihnen die Aussichten auf Erfolg gering sind. Auf dem Tisch der Feldchirurgen kommen diejenigen mit mittelschweren Verletzungen. So, sagt man, wird in der Bilanz den meisten geholfen. Soll dieses System auch in Deutschland angewendet werden, wenn doch noch der Fall eintritt, dass die Intensivbetten knapp werden? Was denken Sie? 

Es gibt zu diesem Thema aktuelle Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv-und Notfallmedizin. Wer zugleich mit einer COVID-19-Infektion auch noch unter schweren neurologischen, onkologischen oder Erkrankungen des Immunsystems leidet oder sonst wie sehr gebrechlich ist, soll im Konfliktfall erst nachrangig behandelt werden. Ggf. soll eine Therapie auch abgebrochen werden, wenn es nur noch eine geringe Aussicht auf Erfolg gibt. Der Medizinethiker Georg Marckmann sagt, die Zuteilung von Intensivkapazitäten soll so organisiert sein, „dass mit begrenzten Ressourcen die meisten Menschenleben gerettet werden.“ (SZ 2. 4. 20)

Natürlich möchte niemand in die Situation kommen, so etwas entscheiden zu müssen. Es ist in jedem Falle furchtbar. Wenn ich aber versuche, mich in die Situation hineinzudenken, fühle ich mich mit den Empfehlungen der Intensivmediziner unwohl.

Die Triage argumentiert mit dem „größten Nutzen für alle“. In der angelsächsischen Welt ist dieses Ethik-Prinzip, der Utilitarismus, weit verbreitet. Das Beste ist, was das beste Ergebnis bringt. So hat man anfänglich in Großbritannien und in den USA den Schaden an Menschenleben gegen den Schaden an der Wirtschaft abgewogen und nur wenige Restriktionen erlassen. 

In unserem Land folgen wir einer anderen ethischen Denklinie. Sie versteht den Wert des menschlichen Lebens als etwas Absolutes, das man nicht mit anderen Dingen vergleichen oder verrechnen kann - auch nicht mit anderen Leben. Das Bundesverfassungsgericht hat ein Gesetz verworfen, das es erlaubt hätte, ein von Terroristen entführtes Passagierflugzeug abzuschießen, um Menschen in einem Fußballstadion zu retten. Unser höchstes Gericht hat gesagt: Leben darf nicht gegen Leben aufgewogen werden. 

Das entspricht unserer christlichen Grundüberzeugung, dass es keinem Menschen zusteht, über das Leben eines anderen zu entscheiden. Alle Menschen sind in völliger Gleichheit Geschöpfe Gottes. Weil Gott es uns gegeben hat, hat unser Leben seinen Wert und seine Würde. Und zwar unabhängig von solchen Kriterien wie Alter, Erkrankung und Lebenserwartung oder gar Leistungsfähigkeit, Bedeutsamkeit für die Gesellschaft oder Ansehen. Es ist nicht „lohnender“, einen jungen, gesunden Menschen zu behandeln, als einen alten gebrechlichen. 

Ich meine: Auch die Abstufung von Menschen nach den Erfolgsaussichten für ihre Behandlung liegt zu nahe an anderen, verwerflichen Abstufungen, als dass sie in vertretbarer Weise vorgenommen werden könnte. Behandlungskriterien schaffen in der Dilemma-Situation nur scheinbar objektive, nur scheinbar handhabbare Maßstäbe. Man beruhigt sich, wenn man sagt: Wir haben es doch anhand von objektiven Kriterien entschieden. In Wirklichkeit bleibt das Dilemma bestehen. Und es gibt dafür, wie ich es sehe, keine Lösung.

Das hieße nämlich gleichzeitig, dass wir auch sonst eine Lösung für das Leid in der Welt hätten. Für mich ist das aber eine Frage, die ich immer wieder nur Gott vorlegen – oder vorwerfen kann. Ihm klage ich, ihm vertraue ich, wenn ich Dinge entscheiden soll, die mich in ausweglose Widersprüche stürzen.

Pastor Klaus Kramer

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