Wir sind Noah

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Wir sind Noah

Gab es vor dieser Menschheit, zu der wir alle gehören, schon einmal eine Menschheit? Glaubt man der Noah-Erzählung, dann war es tatsächlich so. Aber weil diese Menschheit vollkommen verdorben war, hatte Gott beschlossen, ihr ein Ende zu machen. Es kam die Sintflut, die nur Noah, seine Familie und die Tiere überlebten, die er mitnahm in die Arche. Noah wurde gerettet – so wird die Geschichte in der Regel verstanden –, weil er der einzige war, den Gott als gerecht und tadellos ansah.

Das will ich aber gleich klarstellen: Es ist ein himmelweiter, ein grundsätzlicher Unterschied zwischen unserer Situation in diesen Tagen der Corona-Angst und der Geschichte aus dem ersten Buch Mose. Aber einen Punkt gibt es, der uns aufhorchen lassen könnte. Es ist Elie Wiesel, ein Jude, der die Shoah – den Versuch, das jüdische Volk auszurotten – überlebt hat, der meinen Blick auf Noah verändert hat. „Noahs Warnung“ heißt ein Aufsatz von ihm, in dem folgendes nachzulesen ist (Ich beschränke mich auf das für mich im Moment wesentliche!): 

Noah gehorcht Gott, der ihn auffordert, die Arche zu bauen, als alle anderen noch gedankenlos ihrem vergnüglichen, aber doch leichtsinnigen Leben nachgehen. Hier ist Noah, der einzige, der es verdient hat, zu überleben, und dort die restliche Menschheit, die radikal böse ist und darum den Untergang verdient hat.

Vielleicht erinnert sich der eine oder die andere – so wie ich – an die Zeit im Kindergottesdienst. Wir basteln die Arche, die Tiere, und alles, was dazu gehört, und wir sind erleichtert, dass wir mit auf die Arche dürfen, denn Gottes Schutz gilt natürlich auch uns, denen, die auf Gott vertrauen. Ein Glück, wir sind auf der richtigen Seite.

Schon hier übrigens kommt eine Parallele zu unserer Zeit ans Licht: Sind die Todesraten in anderen Ländern höher als bei uns, weil die Menschen dort weniger investiert haben in das Gesundheitssystem? Haben sie nun also in gewisser Weise den Preis dafür zu zahlen, dass sie so sorglos waren, und die ersten Warnungen nicht sofort ernst genommen haben (seien es nun Warnungen von Gott, von der Natur, von Ärzten oder nur die Warnung der inneren Stimme)? Ich schreibe diese Zeilen Ende März. Wer weiß, ob ich nicht mit meiner Einschätzung der Lage hinter dem zurück bin, was sich entwickelt hat, wenn sie diese Zeilen lesen. Wie schnell kann in diesen Tagen das Urteil über die anderen zum Urteil über mich werden …

Ich lasse die lesenswerten Passagen aus dem Aufsatz über die Mutmaßungen aus, was denn genau die Menschheit getan hatte, damit Gott entscheidet, nun alles Leben zu vernichten. Ich lasse auch die Frage aus, was denn Noah genau getan hatte, damit Gott ihn für würdig hielt, den Untergang zu überleben. Eines aber sei erwähnt: Im Gegensatz zu Abraham, der sich noch bis zuletzt für das Überleben anderer in der dem Untergang geweihten Stadt Sodom einsetzt, wird solches Kämpfen, der Einsatz oder auch nur das Gebet für andere von Noah nicht berichtet.

Außerdem möchte ich hier nur einige Sätze überliefern, die aus der Sicht der jüdischen Auslegung beschreiben, wie vorbildlich sich Noah vermutlich verhält während der Krise, in der Quarantäne auf der Arche: "Während der vierzig Tage und vierzig Nächte blieben Noah und seine Kinder bei den wilden und allen anderen Tieren, brachten ihnen Nahrung und beruhigten sie in ihrer Angst. (…) die Wellen, die Unwetter, die Dunkelheit, das Donnergrollen, und vor allem die Ungewissheit: Wann wird das alles enden? Wird es je enden? In diesem Augenblick gibt Noah sein Bestes. Seine vornehmsten Stunden sind angebrochen. Selbstlos, voll Hingabe, unermüdlich, ist er überall, kümmert sich um jedes Lebewesen."

Als dann das Wasser zurückgeht, dürfen Noah und die seinen die Arche verlassen. Noah bringt Gott ein Dankopfer, und Gott verpflichtet sich, in Zukunft die natürlichen Zyklen des Lebens und damit auch das Leben dieser erneuerten Menschheit nicht wieder anzutasten. Dann pflanzt Noah einen Weinberg. Ich zitiere noch einmal Elie Wiesel, denn auch die folgenden Worte möchte ich bei ihm lassen: "Nachdem er Gott ein Opfer dargebracht hatte, fiel er in einen tiefen Schlaf, kroch zuvor in sein Zelt, um schließlich von seinem Sohn Ham in seiner ganzen Nacktheit entdeckt zu werden… Ist das die Spur eines Gerechten? Sich zu betrinken, um die Geschichte zu erneuern? (…) Man stelle sich vor: Er durchlebte ein kosmisches Drama ohnegleichen, er durchlebte eine Katastrophe, die praktisch der ganzen Menschheit das Leben kostete, und alles, was er tun konnte, war, einen Weinstock zu pflanzen und sich randvoll laufen zu lassen? (…) Hat er nichts, gar nichts daraus gelernt? (..) Hat er nicht versucht zu verstehen, was ihm geschehen ist – und ebenso den anderen?"

Elie Wiesel hat seinem Aufsatz bewusst die Überschrift "Noahs Warnung" gegeben. Es ist zu verstehen, dass er, nachdem die Katastrophe überstanden ist, dankbar ist. Vielleicht ist auch zu verstehen, dass er sich nun erst einmal flüchtet in den Schlaf und den Rausch.

Es ist dieselbe Frage, die jetzt schon auftaucht, die auch schon am Schluss der Erzählung von Noah steht: Was ist anders nach der Katastrophe? Um diesen einen Punkt geht es mir. Jetzt schon entstehen die ersten Diskussionen, ob wir an unserer Lebensweise etwas ändern werden, ob wir durch die Corona–Krise lernen werden, solidarischer miteinander und mit der Mitwelt umzugehen, nicht nur während der Krisenzeit, sondern auch danach.

Noah – auch diese Beobachtung verdanke ich dem nun schon so oft genannten Aufsatz – lebt noch, als die Menschheit begann, den Turm von Babel zu bauen. "Richtig, Gott hat versprochen, dass niemals mehr eine Flut die Erde verwüsten wird. (…) Noah hat sicher gespürt, dass die Menschen niemals in der Lage sind, genug von ihrem kollektiven Gedächtnis zu lernen (…). Kaum hatten sie die Geschichte der Sintflut hinter sich gelassen, springen sie in eine andere Geschichte des Schreckens. Sofort beginnen sie mit dem Bau eines gigantischen Turmes, der ihnen erlauben soll, in den Himmel aufzusteigen (…). Man denke daran: Während der Turm von Babel gebaut wird, ist Noah noch am Leben. Er sieht und hört alles. Und er weiß, wie alles enden wird. Warnt er seine Zeitgenossen, nicht die früheren Fehler zu wiederholen? Wenn ja, hört ihm niemand zu."

Ich bin dankbar für die vielen persönlichen Begegnungen, für alle ehrlichen Gedanken und Worte, die andere mit mir teilen in diesen Tagen. Noah, dieser Noah, mit den Augen von Elie Wiesel betrachtet, ist mir dabei so oft durch den Kopf gegangen. Ich habe nichts davon erzählt. Warum eigentlich nicht?  

Allerdings gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass die Menschheit lernt, dass wir lernen, anders, verträglicher und sozialer zu leben. Vielleicht ja diesmal …

Pastor Norbert Harms

Quelle: Elie Wiesel, "Noah oder die Verwandlung der Angst", Freiburg 2000, Seite 9 bis 32.

Das Foto zeigt die Glasarche 3, ein Kunstwerk, seit 2016 auf mehrjähriger Expedition durch Mitteldeutschland war. Gestaltet wurde das gläserne Schiff von Ronald Fischer in Zusammenarbeit mit den Künstlern des Ateliers „Männerhaut“ Stefan Stangl, Jo Joachimsthaler und Alexander Wallner gefertigt. Die Hand von Christian Schmidt und Sergyi Dyschlevyy. Mehr Infos dazu auf der Webseite der Glasarche 3.

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