Schwierigkeiten mit der Religion

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# Gottesdienste/Spirituelle Angebote

Schwierigkeiten mit der Religion

Alle mal gut festhalten! Jetzt kommt wie Sturmgebraus, was Gott im Buch des Propheten Amos über unsere Gottesdienste sagt:

Ich hasse und verachte eure Feste.
Die Opfer, die ihr bringt, ich kann sie nicht riechen,
sie stinken mir in der Nase!
Tut mir weg das Geplärr Eurer Lieder;
eure Musik kann ich nicht mehr hören!
(nach Amos 5, 21-24) 

Ja, aber - mag mancher von Ihnen denken - so schlecht singen wir doch auch wieder nicht? Und sie haben Recht. Der Zorn Gottes trifft mal wieder die Falschen. 

Oder doch nicht? Sind wir vielleicht doch beteiligt an einem Religionsbetrieb, der Gott nur immer weiter davon überzeugt, dass das Projekt Menschheit gescheitert ist? Und zwar nicht, weil wir schief singen, sondern weil außerhalb unserer Gottesdienste so viel schief läuft, dass unsere religiösen Feiern nur noch als verlogen und heuchlerisch wahrgenommen werden können? Klingt es bei uns so falsch, weil in unserer Gesellschaft so viel falsch läuft? Kann Gott unsere Opfer nicht mehr riechen? Nein, nicht die Opfer, die wir hier im Gottesdienst ja gar nicht bringen, sondern die Opfer, die den Götzen unserer Zeit willig dargebracht werden? Dem Geld, der Macht, der Sexualität, der faszinierenden Gewalt, der Selbstverwirklichung, der sogenannten Freiheit, der Mobilität, den Märkten und Marken, dem Wohlstand einiger weniger - und was es mehr gibt an Götzen? Denen wir opfern, dass es zum Himmel stinkt? Und ranken uns noch ein Häkeldeckchen aus Frömmigkeit drumherum? Und sind erschrocken, wenn Gott darüber zornig ist?

Es ströme aber das Recht wie Wasser
und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.

Das ist es, was Gott fordert. Und wäre es nicht schon Gottesdienst genug, wenn jeder Frieden hielte und seinen Nächsten und seine Würde achtete, wenn die Not der anderen uns von Herzen rührten und wir Wege fänden, miteinander auszukommen ohne Hass und Gewalt? Wären dann nicht nur wir glücklich und froh, sondern auch Gott in seinen Ansprüchen gegen uns zufrieden?

Mit der Religion ist es ja eine schwierige Sache, egal, wie wir es damit halten. Es geht um weit mehr als um die Frage, ob es eine „höhere Macht“ gibt. Es geht um unser ganzes Leben. Und es geht auch um große Schwierigkeiten. Die Geschichte des Glaubens ist voll furchtbarer Dinge, und die haben oft nicht mit der „höheren Macht“ zu tun, sondern unserer irdischen Macht.

Seit die Studie zum Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im Bereich der evangelischen Kirche und Diakonie vorgestellt worden ist, wissen wir, dass es bei uns nur wenig anders aussieht als in der katholischen Kirche. Wir haben keinen Grund, uns als die bessern Christen zu fühlen. Unter Ausnutzung ihrer Machtposition haben Pastoren und andere kirchliche Mitarbeiter in tausenden von Fällen Kindern und Jugendlichen sexualisierte Gewalt angetan. Das wurde u. a. dadurch begünstigt, dass man den Tätern aufgrund ihrer Amtswürde so etwas nicht zugetraut hat. Und dass es kaum eine Möglichkeit gab, Macht und Gewalt kritisch anzusprechen. Oder es wurde ein religiöses Mäntelchen um alles gelegt, wenn Taten zwar aufgedeckt wurden, es dann aber hieß, die Betroffenen müssten den Tätern jetzt aber auch mal vergeben, wir sind schließlich in der Kirche.

Natürlich gab und gibt es auch Missbrauch in anderen gesellschaftlichen Bereichen, wo es um Macht geht: In den Sportvereinen, an den Schulen usw., und das ist alles noch nicht im Ansatz bearbeitet. Aber das löst nichts von der Schuld auf, die gerade hier in der Kirche geschehen ist. Und nichts von der zweiten Schuld, die dadurch entstand, dass man jahrzehntelang den Betroffenen nicht geglaubt, die Vorfälle systematisch heruntergespielt und die Täter geschützt hat. Wir haben in der evangelischen Kirche keinen Zölibat, aber es gibt bei uns viele andere der Faktoren, die die sexualisierte Gewalt erst ermöglicht und den Tätern den Missbrauch leicht gemacht haben. Wenn man sich das alles ansieht, wäre es längst an der Zeit, dass Gott sich von uns abwendet. Weil er all das nicht mehr hören und riechen kann.

Auch der vielen anderen Dinge wegen, in die wir als Kirche verwickelt sind. Die Diskriminierung von Frauen, die jahrhundertelang die Theologie bestimmt hat. Die Demokratiefeindlichkeit. Der Antijudaismus und Antisemitismus, Fanatismus und menschenverachtenden Fundamentalismus, und alles im Namen des Glaubens. Und man fragt sich: Wie konnte all das in der Nachfolge des Jesus aus Nazareth groß werden?

Der doch davon gesprochen hat, dass der, der unter uns herrscht, unser aller Diener sein soll (Mk 10,43). Der demjenigen ein Mühlstein an den Hals und ins Meer wünscht, der die Kleinsten und Gefährdetsten angreift (Mt 18,6). Jesus, der die ganze moralische Überheblichkeit der Frommen und Etablierten wegwischt mit dem einen Satz: „Wer von euch ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein“ (Joh 8,7). Jesus, der nicht auf seinem Recht bestand, aber Anmut und Liebe verschenkte. Einer, der nicht andere opferte, aber sich selbst gab. Wie konnten in der Nachfolge dieses Mannes nur diejenigen so groß werden, die immer nur nehmen?

Das ist der Unglaube, der sich als Glaube kleidet. Das ist die Sünde, die oft dort am größten ist, wo man am innigsten zu glauben meint. Das ist die Selbstrechtfertigung. Die nehmen wir in auch an anderen Orten der Gesellschaft wahr: Es gibt ja eine starke Sehnsucht danach, sich zu erklären und verstanden und anerkannt zu werden. Weil das so schwer zu erlangen ist, nimmt man das selbst in die Hand und klopft sich auf die Schulter und redet sich gut zu: Wir sind richtig, wir sind normal. - Aber in der Kirche ist diese Selbstrechtfertigung besonders schlimm, weil wir hier doch besser wissen müssten, wie die Erlösung geschieht. 

Diese ganze Verformung passiert, wenn wir den Glauben selbst machen, statt ihn uns von Gott schenken zu lassen. Wenn wir denken, unsere angestrengten Bemühungen um Religion, Kunst und Kultur und unser Streben nach Verbesserung würden uns zu Gott emporführen. 

Das passiert, wenn wir uns selbst ins Recht setzen. Wenn wir auf unsere eigene Moralität bauen oder auf irgendetwas sonst, von dem wir meinen, darauf stolz sein zu können: Unsere Leistungen, unseren Status, unsere Abstammung, unsere Nation, unser Geschlecht… Statt uns die Gerechtigkeit Jesus Christi anrechnen zu lassen, zu der wir freilich nichts beigetragen haben.

Das passiert, wenn wir Gott menschenförmig denken, und ihn in unseren inneren Bildern mit absoluter Macht ausstatten - und damit doch eigentlich nur verdeckt unsere eigene menschliche Macht rechtfertigen. Die dann uns und andere ins Verderben reißt.

Die Verformung passiert, wenn wir meinen, ein Gefühl von Ergriffenheit am Sonntagmorgen, das wir mittels schöner Musik und einer gehaltvollen Predigt herstellen, sei schon das Rechte und würde unserem Leben Halt und Grund geben. 

Sie passiert, wenn wir es besonders gut machen wollen. Dass unser Anspruch und unsere Wirklichkeit so weit auseinanderklaffen, wie Amos es beklagt, ist ja nur das äußere Anzeichen dieses ganzen Fehlers.

Dieser Fehler hat einen Namen. Er ist das, was die Kritik „Religion“ nennt. Wo der menschengemachte Gott angebetet wird. Der Götze. 

Im vergangenen Jahrhundert haben Theologen wie Dietrich Bonhoeffer einen kritischen Religionsbegriff entwickelt. Das verwundert zunächst, weil man denkt: Religion - das ist doch  die Sache des Glaubens, warum sind die Theologen so ablehnend? Aber wir können uns die Schwierigkeiten mit der Religion daran klar machen, dass die ersten Christinnen und Christen als Atheisten beschimpft wurden. Die antike Welt dachte: Das sind keine religiösen Menschen, die glauben an nichts. Nicht an den bunten Götterhimmel, nicht an die Macht des Kaisers, nicht an den römischen Frieden, nicht an die guten Sitten, das Volk oder die schönen Traditionen. „Denen ist nichts heilig“, hieß es. Die lassen sich nicht beindrucken von Fanfaren, die opfern nichts - jedenfalls nichts richtiges. Die glauben an etwas, an das man gar nicht glauben kann: Einen Gescheiterten am Kreuz bzw. ungewisse Berichte von seiner angeblichen Auferstehung. Das konnten sie damals nicht verstehen. Es ist bis heute schwer zu verstehen.

Bonhoeffer setzt der menschengemachten Religion die Offenbarung Gottes in Jesus Christus entgegen. Er schreibt: Die Summe des Christentums ist nicht unser „Weg zu Gott, sondern (der) Weg Gottes zum Menschen (…). Hier liegt die große Enttäuschung und die noch viel größere Hoffnung. (…) Nicht unsere Religion – auch nicht die christliche! – sondern Gottes Gnade, das ist die Botschaft des ganzen Christentums. Nicht unsere ausgereckte Bettlerhand, sondern das, womit sie Gott füllt, darauf kommt’s an; und das heißt eben überhaupt zunächst nicht wir und unser Tun, sondern zunächst Gott und Gottes Tun. (…) Nicht auf uns steht unsere Hoffnung, sondern auf Gott. (Barcelona, Berlin, Amerika 1928-1931, DBW Band 10, Seite 458 f)

Die Unterscheidung von Religion und Christus-Offenbarung erfolgt durch einen Perspektiv-Wechsel. Es geht nicht darum, wie wir Menschen uns Gott vorstellen, sondern wie sich Gott uns Menschen vorstellt - im Doppelsinn des Wortes. Es geht nicht um unsere Liebe zu Gott, der wir in Kunst und Musik und schönen und klugen Worten  Ausdruck geben. Sondern um Gottes Liebe zu uns. Und dieser Weg der Liebe Gottes führt über das ganz und gar nicht geschmackvolle Kreuz. Das einzige Opfer, das Gott akzeptiert hat.

Man könnte die Unterscheidung von Religion und Offenbarung für eine akademische Angelegenheit halten; sollen die Theologen sich drum streiten. Viele werden sagen: Ich glaube aber doch, was ich will. Aber wir können diesen Punkt nicht beiseitelassen,  weil es ja in der Religion wie im Glauben an die Offenbarung Gottes um alles geht. Und eben auch um all die schrecklichen Dinge, die ich erwähnt habe. 

Ich bin der Überzeugung, dass uns der selbstgemachte Religions-Glaube auf die schiefe Bahn bringt, weil er die Wirklichkeit verschleiert. Weil wir in der Religion Ziele haben und Rücksichten nehmen müssen. Weil die Religion bestehende Unrechtsverhältnisse eher beschönigt als kritisiert. Weil sie Opfer fordert.

Und ich bin der Auffassung, dass uns andererseits die Offenbarung Gottes aufklärt über die wahren Machtverhältnisse. Und uns Worte gibt, das Unfassbare zu sagen. Und uns befreit von den Trugbildern unserer Eitelkeit und Selbstgerechtigkeit und von den falschen Demütigungen, die wir uns und anderen abfordern. Und uns überzeugt von Gottes bedingungsloser Liebe, die diesen Machtmissbrauch beendet. 

Diese Liebe, die in Jesus Christus zu uns gekommen ist, ändert wirklich etwas - auch wenn sie uns daherkommt wie ein Sturmgebraus und uns tüchtig durcheinanderbringt.

Amen

Pastor Klaus Kramer

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