02/07/2024 0 Kommentare
Unfertige Gedanken über die näherrückende Angst
Unfertige Gedanken über die näherrückende Angst
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Unfertige Gedanken über die näherrückende Angst
Ich beginne mit einem Gedicht (oder ist es ein Gebet?) von Dorothee Sölle aus ihrem Buch: „Spiel doch von Brot und Rosen“, Berlin, 1982:
„Die vollkommene Liebe lese ich in dem buch
treibt die furcht aus
solange ich denken kann wollte ich wissen
was die vollkommenen liebe sei und wo sie zu finden
und stolperte über meine füße
immer wenn ich meine ich könnte meine ängste nennen
dann finde ich unter der letzten eine allerletzte versteckt
und hinter der allerletzten von gestern kommt eine
andere hervorgekrochen
wie dumm über die eigenen füße zu stolpern
wie feige nicht alle im eigenen haus lebenden zu kennen
auch die unvollkommenen liebe sag ich mir
treibt und treibt aus
viele ängste doch nicht genug
über deine stimme könnte ich zumindest das sagen
dass sie bestimmt ist und warm
und austreiberisch.“
Im 1. Johannesbrief in Kapitel 4 steht der Vers: „Die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus.“
Mir geht es wie Dorothee Sölle. Immer wieder tauchen neue Ängste auf, gerade wenn ich der Meinung bin, nun sei ich sie endgültig los. Wie kann ich damit umgehen? Einer, der für mich mit bestimmter und warmer Stimme dazu spricht, ist der Liedermacher Konstantin Wecker. Es war, glaube ich, in den 80er-Jahren, als er einen Satz gesagt oder gesungen hat, der mich seitdem nicht mehr losgelassen hat (vielleicht war es während eines Konzerts): „Manchmal habe ich Angst, Angst zu bekommen vor meiner eigenen Angst. Aber nein, nein, darauf lasse ich mich nicht ein. Ich möchte weiterhin verwundbar sein.“
Darin steckt für mich eine ähnliche Haltung wie in den Versen von Dorothee Sölle. Und dieselbe Haltung steckt für mich in einem Lied, das mich genauso begleitet wie die Gedanken oben: „Fürchte dich nicht, gefangen in deiner Angst. Mit der du lebst. Fürchte dich nicht. Gefangen in deiner Angst – mit ihr lebst du.“ Der Trost in diesen Worten ist: Es wird mir wahrscheinlich nicht gelingen, meine Ängste einfach abzuschütteln, auf welchem Weg auch immer ich das versuche. Der klügere Weg ist, jedenfalls für mich, zu lernen, mit meinen Ängsten zu leben. Zuletzt auch mit der Angst vor dem Virus, mit der Angst vor dem Tod.
Ein möglicher Weg, dies zu üben, ist das Reden darüber, der Austausch. In diesen Tagen nicht der Austausch von Angesicht zu Angesicht, jedenfalls nicht ohne den gebotenen Abstand, sondern über die Medien. So gut es geht, hole ich mir immer wieder einen Menschen, am besten einen mit einer die Furcht austreibenden Stimme, nah zu mir heran – so nah, wie es erlaubt ist, und sei es durch die Telefonleitung ...
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